Sehr geehrte Damen und Herren,
mit der Covid-19-Pandemie und den damit verbunden Maßnahmen zu deren Eindämmung wurden in Deutschland innerhalb von Wochen neue Lebensumstände geschaffen, deren Bewältigung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt. Dieser offene Brief gibt den Bedürfnissen der jüngsten Mitglieder der Gesellschaft eine Stimme – den Kindern im Kindergarten- und Vorschulalter. Denn spätestens mit der Schließung von Betreuungseinrichtungen sind die Kinder massiv und unmittelbar – bei unklarer zeitlicher Dauer – persönlich betroffen.
Aus psychologischer Sicht lässt sich die aktuelle Situation von Kindern (Altersgruppe bis 6 Jahren) wie folgt beschreiben:
Kurzfristig und ohne die Möglichkeit einer schrittweisen – dem Alter angemessenen – Vorbereitung, wurde den Kindern durch die Schließung der Betreuungseinrichtungen ein zentraler Ankerpunkt ihres Alltags genommen. Da Kinder seitdem ausschließlich in ihren Familien betreut werden, veränderte sich damit sowohl ihre Tagesstruktur als auch die Verfügbarkeit von Kontakten mit Gleichaltrigen und weiteren wichtigen Bezugspersonen – den vertrauten Erzieherinnen und Erziehern. Folgt man den Darstellungen in den sozialen Medien und dem persönlichen Austausch, ist anzunehmen, dass viele Kinder dabei angestrengte, belastete und möglicherweise deutlich überlastete Eltern erleben, die zwischen Non-Stop-Kinderbetreuung, Berufstätigkeit, Gesundheitssorgen und weiteren Unsicherheiten hin- und hergerissen sind. Während diese neue Ausgangssituation für Kinder und deren Familien bereits hochgradig schwierig ist, fallen zusätzlich durch die Kontaktsperre Familienmitglieder und Freunde als verlässliche Ressourcen für die Kinder (und deren Eltern) weg. Der vielfach angeratene Kontakt per Telefon / Videotelefonie stellt für Kinder im Kindergartenalter, schon aufgrund der altersbedingt eingeschränkten sprachlichen Kompetenzen, nur einen geringen Ausgleich zu persönlicher Nähe dar. So erleben Kinder derzeit in mehrfacher Hinsicht den Verlust von Bezugspersonen und ggf. ungewollte Bindungsabbrüche. Gleichzeitig bestehen aufgrund der sozialen Distanzierung, der Schließung von gesellschaftlichen Einrichtungen, der Einstellung sämtlicher Sport- und Vereinsaktivitäten, etc. kaum mehr Möglichkeiten der Freizeitbetätigung, des Ausgleichs sowie der individuellen Förderung außerhalb des familiären Haushalts. Zeiterleben von Erwachsenen und Kindern ist dabei sehr unterschiedlich, womit wochenlange Veränderungen aus kindlicher Perspektive schwerwiegende Einschnitte darstellen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Grund für diese Veränderung Kindern entwicklungs- aber auch sachbedingt („Virus als unsichtbare Bedrohung“) nur bedingt zu vermitteln ist. Aus den bisher charakterisierten Einflussfaktoren ist damit – zusätzlich zu der gesundheitlichen Dimension der Pandemie – auf eine vielschichtige Risikokonstellation für Kindergarten- und Vorschulkinder zu schließen.
Je nach Alter, persönlicher Entwicklung, ggf. vorliegenden Entwicklungsbesonderheiten, der Beziehungsqualität innerhalb der Familie und den Möglichkeiten der Eltern in der gegebenen Situation feinfühlig und kompensatorisch einzuwirken, sind durch die skizzierte Risikokonstellation nachteilige Auswirkungen auf kindliche Entwicklungsverläufe zu erwarten. Darunter fallen sowohl die Zunahme von Entwicklungsverzögerungen (das kann zum Beispiel die sprachliche, körperliche, motorische, oder die sozioemotionale Entwicklung betreffen) als auch Belastungsreaktionen auf psychischer und körperlicher Ebene. Insbesondere für die sozioemotionale Entwicklung ist Kontakt zu anderen Kindern auf Dauer unersetzlich – Kinder, die bereits an Kontaktschwierigkeiten leiden, wird die aktuelle Situation nicht nur in ihrer Entwicklung zurückwerfen sondern Ängste und Schwierigkeiten verstärken.
Parallel zu der beschriebenen Risikoentwicklung wurde der Zugang zu essentiellen Therapieangeboten – als weitere bisher verfügbare Ressource – für Kinder erschwert bzw. verschlossen. In heilpädagogischen oder integrativ arbeitenden Kindertagesstätten erleben die Kinder im Rahmen ihres Betreuungsalltags eine Vielzahl an therapeutischen Angeboten. Mit Inkrafttreten des Betretungsverbots sind diese Angebote größtenteils ersatzlos weggefallen – obwohl die therapeutische Versorgung für diese Kinder ein wichtiger Bestandteil ihrer gesundheitlichen Entwicklung darstellt. Im Hinblick auf die psychotherapeutische Versorgung von Kindern ist zusätzlich festzuhalten, dass sich diese im Kindergartenalter keinesfalls über „Onlineangebote“ ersetzen lässt – die erforderliche Intensität der therapeutischen Beziehung und die Analyse der nonverbal-atmosphärischen Begegnungsaspekte sind für diese Zielgruppe nicht zu gewährleisten.
Folgendes Fazit ist aus den bisherigen Ausführungen zu ziehen:
Die veränderten Lebensbedingungen während der Covid-19-Pandemie bringen gravierende Entwicklungsrisiken für Kinder mit sich, die ein gesamtgesellschaftliches Ausmaß besitzen und denen umgehend entgegenzuwirken ist. Dabei erweisen sich bisherige professionelle Angebote und Ressourcen im sozialen Netzwerk durch das Kontaktverbot als nicht tragfähig. Abwägungen medizinischer und ökonomischer Natur sind nicht ausreichend, um kindgerechte Perspektiven zu entwickeln. Vielmehr ist bei der Diskussion um Lockerungen der Kontaktsperre, Betreuungskonzepten etc. auch die entwicklungspsychologische Perspektive zwingend einzubeziehen, um die Bedeutung vorgeschlagener Maßnahmen für Kinder einordnen zu können.
So ist beispielsweise aus der Entwicklungspsychologie heraus aufzuzeigen, dass die Diskussion Schutzmasken bei Kindern in Betreuungseinrichtungen einzusetzen bereits in Bezug auf den Spracherwerb als Kombination von lautlicher Stimulierung und Mimik höchst problematisch ist.
Die Forderung eines 1,5-Meter-Abstandes im Kindergarten ist ebenfalls bei Kindergartenkindern nicht umsetzbar, ohne gravierende Folgen für das psychische Wohlbefinden der Kinder befürchten zu müssen. Ein Kindergarten ist ein Ort der Förderung und liebevollen Begleitung – für viele Familien eine wichtige Unterstützung für die Erziehungsarbeit. Körperliche Nähe und Kontakt, die Möglichkeit, mit Bezugspersonen zu Kuscheln und getröstet zu werden sind für eine gesunde Entwicklung essenziell – das Verbot von Körperkontakt bzw. die Forderung der Einhaltung eines Mindestabstandes setzen Kinder in Stress-Situationen unter zusätzliche Belastung. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass das Verständnis für Abstand und dessen Sinnhaftigkeit altersbedingt schwer kognitiv erklärbar ist und ein Mindestabstand der Kinder untereinander nur durch Isolation bzw. isolierte Betreuung einzelner Kinder erreichbar wäre, was aus den o.g. Gründen keine akzeptable Lösung ist.
Dieses Schreiben ist ein Appell flexible und kreative Lösungsvorschläge zu erarbeiten, die vielmehr Kinder und Familien durch professionelle Angebote dort unterstützt, wo die persönlichen Ressourcen nicht mehr zur Verfügung stehen. Es wird ein Konzept benötigt, das Risiken aufdeckt, nachteilige Folgen aufarbeitet und zu kindgerechte Perspektiven führt – wir empfehlen psychologische und psychotherapeutische Expertise in diese Lösungsfindung miteinzubeziehen.
Für diese große Aufgabe werden Fürsprecherinnen und Fürsprecher – Sie persönlich – gebraucht, die den stattfindenden Dialog um mögliche Lockerungen und zukünftige Perspektiven nicht nur mit Blick auf das Infektionsrisiko bewerten, sondern unter besonderer Berücksichtigung kindlicher Bedürfnisse und Kompetenzen mitgestalten. Vielen Dank.
Diplom-Psychologin Dr. phil. Anne Sauer-KramerPsychologische Sachverständige |
Diplom-PsychologinAnnika Rötters Hochschuldozentin für Entwicklungspsychologie |
Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Gülcan Irdem Institutsleitung eines Familienpädagogischen Zentrums |