Bedürfnisorientiert – Was sind denn überhaupt „Bedürfnisse“?
In Elternforen, Blogs und auf Insta-Pages ist in den letzten Jahren zunehmend häufig die Rede von „bedürfnisorientierter“ Erziehung. Auch die Bewegung des so genannten „AP – Attachment Parenting“, die aus den USA nach Europa „geschwappt“ ist, beschäftigt sich intensiv mit Bindung und Bedürfnissen. Heute möchte ich mich mit ein paar Fragen auseinandersetzen:
Was sind überhaupt Bedürfnisse?
Was ist „bedürfnisorientierter Umgang“ miteinander in der Familie?
Ist „bedürfnisorientiert“ nur „AP“ oder geht das auch anders?
Was steckt hinter dem Label „bedürfnisorientiert“? (Ist „bedürfnisorientiert“ gar ein „Qualitätsmerkmal für gute Eltern“?)
Ist „bedürfnisorientiert“ nur „AP“ oder geht das auch anders?
Wer sich mit authentischer Elternschaft oder authentischer Führung beschäftigt (denn da gibt es in der Tat so einige Parallelen…), der stolpert zwangsläufig über viele Namen – Braunmühl, Montessori, Juul, Rogers, Rosenberg, Neufeld, Kohn, Piaget, Pink, Deci & Ryan (…die Liste lässt sich beliebig verlängern…) und viele „Stempel“ oder „Namen“, unter denen unterschiedliche Grundhaltungen, “Erziehungsstile” und/oder Führungsstile zusammengefasst werden. Viele dieser Ansätze beschäftigen sich mit ähnlichen Inhalten und kommen an kritischen Punkten zu den gleichen Schlüssen.
Eine – für mich – wichtige Frage ist hier stets: was bleibt? Und wenn wir dann ganz kritisch schauen, werden vor Allem im Internet häufig Methoden propagiert, mit deren Hilfe die Kommunikation innerhalb einer Familie „ganz easy peasy-Rama-Family-Mary-Poppins-Style“ gelingen soll und das bestenfalls ab morgen.
Das ist NICHT seriös (und nicht möglich). [Deshalb findest Du übrigens an dieser Stelle auch keinen Methodenkatalog, sondern eine sachliche Zusammenfassung aus empirischer Sicht. Methoden sind immer nur so gut, wie sie auf meine persönliche Situation passen.]
Wenn wir es jedoch schaffen, uns von den Methoden zu lösen (, die Einstellung, die hinter den Methoden steht, in den Vordergrund stellen) und daran arbeiten, diese Grundhaltung in unseren Alltag zu integrieren, dann nähern wir uns einem Miteinander – nicht nur in der Familie, sondern generell im Umgang mit Menschen – an, das Fortschritt begünstigt und Wahrung der Identität und Integrität aller Beteiligten wahrhaftig in den Mittelpunkt stellt.
Die humanistische Perspektive Rogers, die Menschenliebe Freuds, das Fortschritt-Streben Piagets, das Streben nach Sinnhaftigkeit und Autonomie, der Verweis auf die Intuition von Sears&Sears und die Erkenntnis, dass Bedürfnisse immer individuell und situativ betrachtet werden müssen – all dies sind wichtige Erkenntnisse und Grundlagen für eine echte, gelebte Gleichwürdigkeit. Wenn wir die Unterschiede einzelner nicht nur wahrnehmen, sondern auch berücksichtigen, jedem Menschen als Individuum gleichwürdig begegnen und Bedürfnisse gerade durch ihre individuelle Behandlung auf Augenhöhe gerecht gewichten, dann sind wir mitten in einer gleichwürdigen Kommunikation innerhalb der Familie wie im Unternehmen (und dann ist es auch egal, wie wir das nennen).
Was steckt hinter dem Label „bedürfnisorientiert“? Ist „bedürfnisorientiert“ ein „Qualitätsmerkmal für gute Eltern“?
Wir fassen zusammen: Bedürfnisorientiert ist ein Miteinander, dass sich an den Bedürfnissen aller Beteiligen orientiert und die Wahrung der Bedürfnisse Aller unter Achtung der persönlichen Integrität aller Beteiligen stets in den Vordergrund stellt. Das ist keine Zusammenstellung von Methoden, sondern ein flexibler „lebendiger“ Prozess, der sich innerhalb jeder Struktur, in der sich Menschen gleichwürdig „auf Augenhöhe“ begegnen, dauernd vollzieht. Bedürfnisorientiert ist also kein „Erziehungsstil“, sondern maximal eine Grundhaltung, deren Einnahme zu immer neuen (Lern- und Entwicklungs-)Prozessen in der Familie führt.
Nur weil jemand sagt, er gehe „bedürfnisorientiert“ mit anderen Menschen um, heißt das allerdings leider noch lange nicht, dass in der Praxis tatsächlich auch die innere Grundhaltung der Gleichwürdigkeit eingenommen wird oder überhaupt Grundlagenwissen darüber, was „echte“ oder „wichtige“ Bedürfnisse im Einzelfall sind, vorhanden ist. Der bloße Stempel ist also leider kein Qualitätsmerkmal. “Bedürfnisorientierte” Eltern machen auch Fehler. Und das ist ok – denn aus Fehlern lernen wir. Wichiger ist, dass wir bereit sind, zu unseren Fehlern zu stehen und uns weiterzuentwickeln. An dieser Stelle noch folgender Hinweis: Eltern sein ist kein „Stempel sammeln“. Wenn unsere Kinder erwachsen sind, wird uns keiner einen Blumenstrauß überreichen, und uns sagen, was wir falsch und was wir richtig gemacht haben. Es gibt keinen “Preis für Elternschaft”. Ich möchte daher mit einem – für mich – immer wieder zentrierenden Gedanken enden:
Familie ist nicht für irgendjemand anders, sondern für die Mitglieder einer Familie. Am Ende des Tages zählt nicht, was irgendwer von außen wahrgenommen hat, sondern dass wir glücklich sind und es uns allen gut geht.
Du möchtest Dich von Methoden lösen und an Deiner Grundhaltung arbeiten? Schreibe mich gerne hier an und wir terminieren eine Beratungsstunde in meinen Räumlichkeiten oder Online im geschützten Raum. Das Einzelcoaching Das tut mir gut setzt an Deiner konkreten Fragestellung an und wird von mir für Dich persönlich ausgearbeitet. Auch der Intensiv-Workshop in Kleingruppen Programm Stress Bewältigen – Stärke Finden enthält neben Fachwissen und angeleiteter Reflexion viele unterschiedliche Übungen für ein erfüllteres Alltags-Erleben. Der Workshop Mutterschaft in Balance richtet sich konkret an Mütter und beinhaltet außerdem Informationen über kindliche Entwicklung und Eltern-Kind-Bindung.
Herzlichst
Annika Rötters
Quellen:
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Bowlby, J. (1958). The nature of the child’s tie to his mother.Kuhl, J. (2001). Motivation und Persönlichkeit: Interaktionen psychischer Systeme. Göttingen: Hogrefe.
Bowlby, E. J. M. (2008). Attachment: Volume One of the Attachment and Loss Trilogy. Random House.
Bridgman, T., Cummings, S., & Ballard, J. A. (2017). Triangulating Maslow’s Hierarchy of Needs: The Construction of Management Studies’ Famous Pyramid. In Academy of Management Proceedings (Vol. 2017, No. 1, p. 14177). Briarcliff Manor, NY 10510: Academy of Management.
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